Mädchen mit dem Perlenhalsband

Wir sehen begegnend und bedenken zunächst die Darstellung des Mädchens mit dem Perlenhalsband.

Der Raum, in den uns das Vermeer-Bild als Beobachter eintreten und ihn mitkonstuktiv empfindend erschließen läßt, wird durch ein geschlossenes Glasfenster links erhellt und das einfallende Licht gleisend von der anschließenden Wand, auf die der Betrachter frontal blickt, reflektiert. Der gelbe Vorhang vor dem Fenster ist zurückgezogen. Der Blickrichtung auf die leere, helle Wand, die zur Zimmermitte hin dunklet nur leicht ins Grau ab und läßt dann erst die Silhuette einer jungen Frau wieder in den Blick fassen, die quer zur Ausrichtung des Beobachters in den zu vermuteten kleinen Spiegel neben dem Fenster sieht, ihrerseits gut beleuchtet vom direkt auf sie fallenden Fensterlicht.

Die Blicke stehen also überkreuz.

Der Betrachter sieht nicht das Spiegelbild der die Schönheit ihrer Zierden prüfenden und bewundernden jungen Dame im pelzbesetzten, gülden wirkenden Umhang.

Die Eitelkeit, die hier unmittelbar als Bildthema zu erkennen ist, erhält eine bildfigurative Deutung durch die Leere der das Licht spiegelnden Wand: nur wenn wir uns als Bildbetrachter (aus dem Malerblick, der uns von der Werkkomposition her führt) mit dem Beurteilungsblick der jungen Frau identifizieren, wird ihr Erblicken des durch das Geschmeide hervorgehobenen, verlockenden  Schönen als ins Leere gehend fasslich; assoziiert wird das alte moralisch-sittliche Thema der Vanitas, der Vergeblichkeit, das hier eine geistig sich erschließende Gegenwart im Verhältis zu einer sich mit Perlen schmückenden jungen Frau findet. Thematisch wird eine mit der schmückenden Erzeugung von Attraktivität dargestellte Eitelkeit, die für sich genommen Schein erzeugt und ins Leere geht. Erkennbar wird sie durch das Erblicken des Betrachters, der leeren Wand gegenüber, das eingetragen ist in die kompositorisch zu erschließende Bildbedeutung.

 Tatsächlich ist durch Infrarotaufnahmen zu erkennen, dass Vermeer ein an der Wand hängendes Bild gelöscht hat, also diese Leere ganz bewußt eingestaltet hat.

Es ist eine Gegenwart von Sittlichkeit im Sinnlichen, die nicht durch eine gleichsam objektivierten Haltung einer Figur zur Darstellung kommt, der wir nur als Beobachter gegenübertreten, sondern sich durch ein sich Einlassen und Identifizeren mit der Eitelkeit oder dem Begehren des schön Erscheinenden als je eigener Haltung einstellt.


Wir identifizieren aber nicht nur, wir bleiben uns auch unterscheidbar und wissen um die Figuration des Einversetzens und wieder zurücktreten Könnens (und Müssens). Unser Einsatz bleibt vielfältig gestimmt. Wir sind durch die Bildkomposition auch eingeladen, Beisitzer zu sein – in einem durch das Gemälde initiierten Prozess. Das ermöglicht explizit der Stuhlsitz im Vordergrund vor dem raumteilenden Vorhang.

Auch sind wir uns bewußt, dass wir als Betrachtende eintreten und die Malerei einen Vorhang weggezogen hat, der nun dunkel violett vor uns über dem Tisch liegt, einen Vorhang zum Eintreitt in einen Raum, der erst – als dieser Ort der reflektierenden Begegnungen, Verweilungen und Erkenntniswegen – durch das Hinwegnehmen geschaffen wurde, denn die figürlich-symbolische Bedeutung des drappierten Vorhangs oder Decke, ist erst mit dem Gemälde gegegen.

Durch ihn wahrt das Bild die Erinnerung, dass wir in einen intimen Raum eintreten, den zu erkennen nur die Bildkomposition eröffnet und den es ohne dieses mitwirkende Erkennen als durch die malerische Blickkompositionen geführt, nicht gibt.

Das Fiktive, genauer, durch Einbildungen Mitgetragene des kunstvoll erwirkten Bildes bleibt für alle Deutung immer mit bewußtseinsfähig und verbietet es, solche Kunstwerke einem Genre zuzuordnen: weder haben wir es hier mit einem Realismus noch Symbolismus zu tun. Die bedeutenden Werke verlangen ein sich Einlassen und unsere Bewunderung gilt hier wie für viele andere der kompositorischen Balance und dem Einbezug der verschiedenen Ebenen und Vermögen von Seele und Geist vermittelt durch die augensinnlich affizierten Ausdrucksgestaltungen – für den Eindruck und die Beindruckung.

Beindrucken will zweifellos auch die sich schmückende Frau. Und wir haben Teil an einer Selbstbeobachtung im Kabinett, das auf das Ausdruckswirken gegenüber anderen hin ausgerichetet ist, vornehmlich auf das eines sich um ihre Gunst bewerbenden - hier noch abwesenden - Mannes.

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