Da sie den Kopf in den Raum, in die Richtung des Betrachters wendet, ohne ihn anzublicken, hält sie dem einfallenden Licht die Wange hin, die zärtlich berührt, leicht errötet, währen der Blick gesenkt ist, über das Buch zum Tisch, vielleicht zum aufgeschlagenen Skizzenblock – was es da wohl zu sehen gibt?
Die Lippen sind leicht geöffnet, das die Sinnlichkeit ihres Ausdrucks verstärkt. Die etwas dickere Unterlippe könnte zum Mundstück der Posaune passen. Sie bleibt in allem ein erblühendes Mädchen, zukunftshoffnungsvoll, und bleibt Modell, das posiert und umständlich ihre Attribute, hält Buch und Instrument in Arm und Händen hält.
Ihre Bestimmung zur Öffentlichkeit macht sie zur Trägerin einer Bestimmung,eines Auftrags. Sie ist als Figur nicht selbst diejenige, die in der Tat öffentlich wirken und in Funktion tritt; sie spricht nicht, schreibt nicht, bläst die Posaune nicht wirklich. Alles an ihr ist Symbol, und darum ist sie eine allegorische Figur, die sich in dem, was sie kennzeichnet und umgibt, ausstellt und darum den Betrachter ruft, den sie nicht anblickt, aber weiß, dass er sie, die ins Licht Gerückte, sieht.
Jan Vermeer, Die Malkunst
Betrachtung im Kunsthistorischen Museum Wien, Oktober 2018
Das Mädchen als Modell, das Clio, die Rühmende, die Muse der Geschichte und des Geschichtsgedächtnisses anzeigt, wird vom einfallenden Licht angestrahlt, das hell jenes Dreieck der Wandfläche zwischen Vorhang, Kartenrand und Trompete aufleuchten läßt und dem Betrachter jene Intensität und Strahlkraft erfahrbar, im Sehen fühlbar macht, das die linke Wange und Stirnseite des Mädchens berührt, umschmeichelt und sie erröten läßt. Sie, die Rühmende, hat sich ins Offene gestellt, sich in dem, was ihre Attribut als Bestimmung weisen, zu zeigen. Ihr vom Maler - in einer wiederum im Bild repräsentierten Gegenwart - Festgehaltenwerden versetzt den Betrachter in eine Aktualität, die das, was mit Lichteinfall in die Stille Malszene der Kammer fällt, mit der Deutung der Requisiten und Symbole verknüpft.
Das Gemälde stellt macht öffentlich, wie es das Zurückziehen des schweren Vorhangs getan hat, ebenso wie Clio, das Bedeutende öffentlich macht, das sie mit Posaunen kündet.
Clio, die Rühmende, wird dargestellt von einem Mädchen, die vor dem Fenster steht und noch im eben sich öffnenden Schutzraum eines Ateliers das Licht der Öffentlichkeit empfängt, die es zu tragen hat.
Sie zeigt sich, sie weiß es und das Erröten ihrer nackten Wange über all dem Stoff wird, mit dem gesenkten Blick, zum Ausdruck zugleich von Keckheit und Scham im Ausgestelltsein als eine zugleich auch von ihr affirmierte öffentliche Hingabe.
Sie tritt als sinnliches Wesen in ihre Bestimmung zur Öffentlichkeit ein.
Der Raum, in den, für jeden offen, der jeweilig herantretende Betrachter eingeladen ist, sehen und denkend einzutreten und sich gleichsam als stiller Teilnehmer dazu zu gesellen, zunächst noch abgehalten von der Schwere des Verhängung, die aber schon zurückgeschlagenen einen Beobachterplatz bietet mit dem Stuhl unmittelbar davor.
Der Maler sitzt, breitbeinig, und mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt. In ihn versetzt er sich nicht, seine Haltung und Stellung muß der zum Betrachten und Deuten Eingeladene nicht einnehmen. Der Maler im Bild zeichnet nur ab, ahmt die Erscheinung der Figur nach, verweist aber so auf sie als Zentrum der Bildkomposition. Von ihr her erhält der Betrachter die Wegweisungen zur Erschließung.
Licht – gleitet die Posaune entlang, wird vom schräg gehaltenen Buch und von den glänzenderen Gewandfalten an Schulter und Ärmel reflektiert.
Es ist der Vorhang, der beiseittretend den Weg zu dem öffnet, das im Tageslicht sichtbar wird, aber begriffen will von dem her, an dem sie trägt in diesem gedrängten Gefüge von Zeichen und Konstellationen.
Clio steht und hält sich im Lichtraum, hält ihre Wange dem Licht entgegen, das sie mit dem Auge des Betrachters im und vor dem Bild küsst. Sie verkörpert das aus ein liebevolles Betrachtetwerden eingestimmte Modell jener Malkunst, die Liebe und Gedächtnis im Begreiflichwerdenlassen ihres Auftrags vereint.
Reflexion der Malerei in der Geschichte:
Begründung kulturgestifteter Identität
Durch die Schwere des Vorhangs, der sich zur Seite öffnend den Blick auf die umso fragiler scheinende Mädchenfigur frei gibt, die Ruferin der zu erinnernden Geschichte und ihre geschriebenen Gedächtnisse - Klio.
Auf dem Tisch, vor Clio und im Halbrücken des Malers, sind Utensilien drapiert, die an ein Stilleben erinnern. Hier sind - neben ihren Attributen - Trompete, Lorbeer und Buch - Stücke versammelt, die an weiter Musen erinnern:
Maske - Thalia (Theater)
Musikheft - Polyhymnia (Gesang) und Euterpe (Lyrik, Flötenspiel)
Die Gegenstände lassen aber weitere Deutungen zu: Deutet man das Buch als Malereitraktat, die Maske als Bildhauermodell und das Heft als Skizzenheft, ergeben sich Bezüge zu Begriffen aus der italienischen Kunsttheorie: „Disegno“ „Imitazione“ und das Traktat für die „Buona regola".
Die durch die Malkunst für erzählenswert bedeutete Geschichte, dessen, was eines Bildes eigentlich würdig ist, wird durch künstlerische, kulturelle und von den Musen des Gedächtniswürdigen getragenen Werken und Leistungen erbracht, von denen auch die Orientierungen ausgehen. Es werden keine kriegerischen Handlungen gelobt, keine Siege gerühmt; - es sind keine Waffen oder Verweise auf Schlachten im Bild vorhanden.