Nicolas Poussin Et in arcadia ego


Bild und Person 

Die Reflexion des Scheins und der Geist des Kunstwerks in Nicolas Poussin's

„Et in arcadia ego“ (Louvre)


I.

1.

Das großformatige Gemälde konfrontiert uns mit einer beeindruckenden Konstellation von vier Figuren vor dem Massiv eines wie eine Steinwand sie gegen die zum Hintergund werdende Landschaft abgrenzenden Sarkophags.

Dieses Gedenkmal eines bedeutenden, aber namenlos bleibenden Toten ist zum Versammlungsort geworden, an dem sich, sie hinterfassend, die verschiedenen Haltungen der Figuren kompositorisch verknüpfen. Es zeigen sich drei Hirten, mit Lorbeerkränzen um die teils edel gelockten Haupthaare, halbnackt mit jeweils zum Betrachter hin entblößter Schulter und langen, Halt bietenden Stöcken. Sie sind in unterschiedlichen Köperhaltungen mehr bewegt dargestellt, während die Frau rechts fast wie ein Statue ruhend die Gruppe abschließt, aber in den Vordergrund rückt und größer und präsenter wirkt. Von links lehnt eine fast aufrecht stehender Jüngling im hellen Gewand auf dem Steindeckel des Grabmals; sein Gewand und sein linker Arm liegen bequem auf, so dass er sich stützend leicht vorbeugen kann, um dem knienden, deutlich älteren, bärtigen Hirten im blauen Gewand kniend beim Entziffern der Inschrift zuschauen zu können. Dessen ausgestreckter Zeigefinger fährt deren Buchstaben entlang (er ist vermutlich gerade beim R von ARCADIA), während sein Oberkörper, sein Kopf und sein Arm einen Schatten werfen, auf dessen Rand wiederum, ebenfalls mit gestrecktem Zeigefinger der dritte im roten Gewand zeigt, der gebeugt, mit angewinkeltem Bein aber den Kopf wendet und erwartungsfreudig auf das Gesicht der hehren Frau neben ihm blickt.

Auch ihre Schulter ist zum Betrachter hin leicht entblößt, trägt einen ebenfalls, wie das Gewand des Knienden blauen, langen Rock unter einem gelben glänzenden Umhang. Sie ist als einzige nicht bekränzt, sondern ihr Haar wird durch Bänder gefasst, während der Kopf wird vom Lorbeerbaum hinter ihr umkrönt ist. Er wurde hinter dem Sarkophag gepflanzt und ist darum (in der Konstellation der Orte) zugleich dem rühmend zu gedenkenden Toten zugeordnet. Das helle Gesicht der Frau ist gegen das dunkle Grün dieser ersten Hintergrundebene deutlich betont und noch vorne gehoben. Sie blickt still und bedächtig, fast lächelnd, hat ihre rechte Hand und Arm auf Schulter und Rücken des ihr zurück gewandten Hirten gelegt, während der linkte Arm mit dem abgeknickten Handrücken sich in die Hüfte stützt, und eine gegenüber der vertraut wirkenden Berührung spannungsvolle Distanz als Beobachterin innerhalb ihrer Teilhabe (an der deutungszentrierten Gruppe) erzeugt.

Hand und Arm der Frau auf dem Rücken des zu ihr zurückblickenden Hirten nimmt zwar auch den Gestus des sich Abstützens wie beim (hellen) Jüngling ihr gegenüber auf, aber sie steht völlig aufrecht und in sich ruhend, lastet also kein Gewicht auf seine Schulter. Darum wirkt dieses Auflegen als Geste des Wohlwollens und der Bestätigung, des Schutzes und der Hut. Mit den nackten Hautpartien bildet sich dem betrachtenden Auge eine Linie von ihr über den linkten Arm dessen, bei dem sie steht (und dem sie beisteht), kann über Schatten und Schrift zum Finger der Hand des Knieenden sich leiten lassen, um dann über dessen Arm und breiter nackter Schulter hoch zum sich zweifach abstützenden Jüngling und dessen ausgestreckten Arm zu wandern, dessen Hand wieder auf die zentrale Verbindungs- und Brückenstelle im Bildzentrum zurückweist.

Die Figuren sind sorgfältig ausgestattet, mit teils auf ihre Kleidung farblich abgestimmten Sandalenbändern. Nur der Jüngling im Hintergrund ist unbeschuht, naturnäher wie auch sein Gewand sich farblich an die Textur von sandiger Erde und hellem Stein anschmiegt. In seiner haltung nimmt er den ersten Hintergrund auf und gibt der Figurenkonstellation einen gegen die Ferne integrierenden Abschluß.

Die drei anderen Figuren werden so in Haltung und farblicher Ausdrucksgestalt auf uns hin in den vornehmlich zu beachtenden Anschauungs- und Bedeutungsraum gehalten. Sie sind farblich einander kontrastreich mit blau, rot und gelb ergänzend abgestimmt und ihre Köpfe liegen, wie Reinhard Brandt bemerkt, auf einer „planimetrischen Linie“.

„Die Gewänder, de würdige Gestus der Figuren, die Hirtenstäbe, die den Lanzen von Kriegern gleichen, die hohen Bäume mit dem edelsten der Bäume, dem Lorbeer, und der bergige Hintergund, das alles nobiliert das dargestellte Simplicita-Motiv und suggeriert eine ranghöchste Bedeutung.“ (Brandt, 1999, Die Wirklichkeit des Bildes, S. 237)

Wir schauen auf einen befestigte Vorplatz, ein vom Wege zugängliches kleines Plateau, das mit der Steinmauer des leicht schräg nach links hinten ausgerichteten Grabmals etwas theaterbühnenhaftes erhält. Hinterfasst ist die Szene der Figuren vor und mit dem steinernen Gedenkmal von der bereits beschriebenen kleinen Baumgruppe. Dahinter breitet sich eine unkultivierte Landschaft mit im ferner werdenden Hintergrund blauen Berggipfeln aus, hinter denen hell noch einige Wolken beleuchtend die Sonne untergeht, die selbst nicht mehr sichtbar ist. Die Landschaftsgestaltung in ihrer Tiefe und ihrem in die Ferne Weisen erinnert an die Ausblicke, die in Leonardos Madonnenbildern den Erscheinungsgrund der Figuren bilden.

Mit der nun aus der beachteten Bildtiefe erkennbaren Abendstimmung zur Zeit eines Sonnenuntergangs und der einsetzenden Dämmerung kann die Szene im Vordergrund nicht mehr von einem als natürlich in realistischer Landschaft gekennzeichnetem Licht beschienen sein und sie uns erscheinen lassen. Es ist kein Sonnenlicht, das den darum um so bedeutsamer werdenden Schatten wirft.

Der Betrachter wird so zur Beachtung herausgefordert, dass es die Farbpigmente auf dem Gemälde sind, die unter dem Raumlicht des zur Betrachtung ausgestellten Bildes die Erscheinungen uns sichtbar machen.

2.

Vom Schattenwurf durch ein künstliches Licht als Quelle ist im Gleichnis von Platons Höhle die Rede, das ausgehend von einer im Widerschein gegenüber einer flächigen Wand für die dort als menschlich befangen geschilderte beobachtenden Wahrnehmungserkenntnis eine mühvolle, unbequeme und Widerstand erzeugende Umwendung ihrer Ausrichtung zur berichtigenden Bildung von wahrheitsfähiger Einsicht schildert.

Auch für die Tafelmalerei gilt: wie die Schatten ist die Flächigkeit gegenüber dem nur gespiegelten, auf das Augensehen abgerichteten Bild von Körper ein Medium der Erzeugung von Schein, dessen Wahrheit nicht das Sein der Körper im dreidimensional wieder nur anschauungshaften Vorstellungsraum sein kann (als wäre das gemalte Bild in Wirklichkeit nur ein Spiegel, in dem sich für das betrachtende Auge die jeweilige Körperumwelt spiegelte): wahrheitsfähig wird die Bildkunst nur, wenn sie das Scheinbildnerische ihrer – immer mit Imaginations- und Illusionsbildungen durch technischen Einsatz von kunstvoll verwendeten Mitteln der materialen Gestaltung verknüpften – Verfahren selbst mit zu erkennen gibt, also dem Betrachter mit dem Bewußtsein, was er sieht, auch ein Selbstbewußtsein eröffnet, dass er sieht und im Sehen konstruktiv deutet.

Der Schattenwurf auf der Seitenwand, der sich über den Schriftzug legt, assoziert ein mythisches Gedächtnis vom Ursprung der auf die Fläche gezeichneten Umrisse menschlicher, geliebter und für das Gedächtnis der in die Vergangenheit (der Zeit) entschwindenden Anwesenheit als Erinnerungsbild memorierend festgehaltenen Gestalt.

Plinius, ein römischer Geschichtsschreiber des 1. Jh nach Christus, führt die Entstehung der Malerei zurück auf eine Liebesgeschichte. Debutade, ein Mädchen aus Korinth, nimmt bei Kerzenschein Abschied von ihrem Geliebten, der in die Ferne und vermutlich in den Krieg zieht. Die Lampe wirft seinen Schatten an die Wand und das Mädchen zieht den Umriß mit einer Linie nach um das Bild des Geliebten festzuhalten.

Suvée hat diese Szene in einem 1791, also fast 150 Jahre nach Poussins Gemälde, selbst malerisch dargestellt. (Abb 2) Auch hier ist die Quelle für den auf die Wand geworfenen Schattens ein künstlicher Licht innerhalb eines Raums: eine Kerze oder eine Öllampe.

Poussin malt aber den Widerschein einer Lichtquelle, die wir von seitlich zur Betrachterrichtung und von oben her anzunehmen haben, in der Helligkeit der leuchtenden Farben der Szene vor der Steinwand, setzt sie durch diese Beleuchtung vom Landschaftshintergrund mit dem Sonnenuntergang hinter der Gipfelkette des Gebirgs ab. Die Körperbilder der Figuren mit dem modellierten Inkarnat, den beiden leuchtenden Gesichtern rechts und dem hervorstechend goldgelben Obergewand der statuarischen Frau werden so auch durch die maltechnische Lichtführung in die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Betrachters gerückt, der so aus der Einheit von Figurale und lichtmalerischer Komposition die rühmende Muse der Dichtung am Ort einer als Ursprungsgeschichte zu deutenden Ereignisses vernimmt.

Dieses technisch malerische Mittel, die an eine Theaterbeleuchtung zur Betonung einer Szene an der Bühnenrampe erinnert, setzt die vorzustellende Lichtquelle außerhalb des sichtbaren Bildes und setzt sie damit in eins mit der inspirativen Quelle der Malkunst (dem Geist ihre Imagination). Der Geist, die konstellative Idee des Kunstwerks gestaltet durch die – nicht nur zeichnerisch gefasste – Verwendung von Farbmaterie, deren flächiger Auftrag das reale Tages- oder Kunstlicht im Betrachterraum, wo das Bild  hängt, die Einbildungskraft des vorstellungsbildend betrachtenden und in ein Deuten des Bedeuteten schon verhaltenen Geistes anregt und ihre Mitwirkung beim Sehen verlangt.

Der Sarkophag ist innerhalb des Bildraums der zu imaginierenden Szene leicht schräg von links her situiert, so dass das Kunstlicht von der linken Seite zwar von oben, aber fast rechtwinklig auf die Steinwand trifft und so den Blick auf den als fast orthogonal geworfenen, aber eben gemalten Schatten freigibt. Zugleich werden nach rechts hin die Figuren in den Vordergund gerückt und erhalten mit der zentralperspektivischen Illusion, verstärkt durch das Licht auf den hellen Flächen von Schultern, Arm und Gesicht, eine vergrößernde Bedeutung.

Betrachten wir darum von der ihrerseits betrachtend (dahingestellt) dastehenden Frauengestalt her zunächst das Verhältnis zum zu ihrem Gesicht aufblickenden jungen Hirten mit dem roten Gewand, dessen Hand und Zeigefinger auf den Rand des Schattens seines älteren Mithirten weist. Seine Wange ist leicht errötet, er scheint erregt ihr (und damit uns) etwas zeigen zu wollen, das er mit dem Schattenriß entdeckt hat: er könnte mit dem Finger den Umriß des Schattens nachzeichnen (wie das Mädchen aus Korinth, während die stehende Frau zugleich von oben (im Gestus einer himmlischen Güte) auf die nachzeichnende, das Schriftzeichen erfassende Handbewegung des Knienden blickt, also das vereint, was auch das Betrachten des Bildes verknüpfen muss.

Wenn man will, kann man mit hie auch an das hier untergründig mitthematische Verhältnis des Römischen zum Griechischen für die Ursprungsreflexion zum Geistigen in der Kunst denken, da die Legende vom Ursprung der Zeichenkunst mit dem Gedächtnisorts in Arkadien durch das Bild thematisch verknüpft ist.

Die Frauenfigur repräsentiert, so läßt sich zusammenfassend deuten, im Bild den vereinigenden Geist der erfassend und betrachtend, gedenkend und deutend Schauenden, in dem als Geist des Werks die Werkidee bildgestaltungsvermittelt für den Erkennenden gegenwärtig wird. Sie ist darum – von Reinhard Brandt u.a. - zurecht als die göttliche Muse der Pictura begriffen worden, keine leichtlebige Gespielin der Hirten in der auf Liebeslust und ihren Gesang gestimmten Schäferlebens,  wie dies in der 10 Jahre vorher entstandenen Fassung des Hirtenbildes (in einer englischen Sammlung) noch konzipiert war, in der eine Schäferin halb barbusig mit hochgeschürztem Rock die Hirten begleitet. (Abb. 3)

Sie ist aber auch keine allegorische Figur, ihre Gestaltung und Rolle im Bild entspricht nicht der Ikonologie der Malerei nach Ripa, anders als die Gentileschi, die sich in ihrer Allegorie selbst in ihrer Bestimmung als Malerin zeigte: im Beginnen des Werks (Abb. 4), für da ja auch die Dichter die Musen anrufen.

Es sind aber bei Poussin alle vier Personen bedeutsam für die geistige Erkenntnisbildung in Beachtung der Struktur des Werks dieser schönen Kunst – und zwar in ihrer Konstellation um dieses Gedächtnismal aus Stein herum, der einen Gedenkort in Arkadien für ein geistiges Gemeinschaftsleben stiftet. (Keine Selbstaufforderung zum Malen, sondern die Bedeutung der Malkunst als geistige Kunst.)

Dieser Ort des ich-Seins und Sagens wird zum Repräsentanten des personalen Selbstbewußtseins im durch die Werkstruktur sich formierenden Gemeinsinn aller denk- und deutungs- und gedächtnisfähigen Betrachter.


II.

1.

Dominant sind in diesem Bild von Nicolas Poussin Farbe und figurale Komposition. Die Zeichnung, auf deren Ursprung als Kunst der hindeutend hervorgehobene Schattenriß verweist, besitzt ihre Domäne im farblosen Liniengeflecht, für das allenfalls – wie in einigen Dürerzeichnungen – die Farbe das Ergänzende ist und ausmalend für einen realistischeren Eindruck des Dargestellten sorgt (aber auch etwas kindliches behält und eben an das Ausmalen erinnert). Poussin gehört aber nicht zu den „Koloristen“ und ignoriert die Zeichung nicht wie jene Malertheorie, die Balsac seinem Meister zuschreibt: „Ich habe nicht wie eine Menge Ignoranten, die sich einbilden, korrekt zu zeichnen, weil sie einen sorgfäligen ausgefeilten Strich ziehen, trocken die Außenränder meiner Figuren umrissen und jedes anatomische Detail unterstrichen, denn der menschliche Körper wird nicht von Linien umrahmt. (…) Die Natur besteht aus einer Reihenfolge von Rundungen, die ineinander übergehen. Streng gesprochen gibt es keine Zeichnung!“ (Balsac, Das unbekannte Meisterwerk S. 27)

2.

Zur Frau als Schutzgöttin der Mal- und Zeichenkunst, zu der mit den Zeichnungen auch die Zeichen der Schrift gehören, die kunstvoll verfertigt und gelesen geradezu symbolhaft für das eingravierte Gedächtnis stehen (zum Bildhaften der Schriftzeichen vgl. die Hyroglyphen), besteht auch eine erotische Beziehung, sofern in ihr die Muse des Malens und Malenkönnens selbst geliebt wird: im Verlangen nach der Vollendung dieser Kunst, wie sie als antreibende Bestimmung den seinen Genius entdeckenden Maler zum Erschaffen des vollendeten Kunstwerks drängt. Dafür mag die leicht gerötete, der Frau zugewandte Wange des Hirten ein Anzeichen sein. Arkadien jedenfalls gilt als von der vergemeinschaftenden Liebe getragene und durchdrungene Seelenlandschaft.

Als Pictura wäre die Figur der betrachtend gütig an einem Erkennen und Entdecken teilhabenden Frau die Schutzgöttin der Malerei auf ihr Aufgenommenwerden in der sie betrachtend Wahrnehmendne Öffentlichkeit hin, nicht aber ist sie wie bei Artemisia Gentileschi als Allegorie der malkunst gezeichnet, für die sich Artemisia selbst einsetzt und damit die Pictura als Malerin an den Anfang eines ihrer Werk setzt, zur göttlichen Auftragsbestimmung seiner Intention. (Abb. 5)

3.

Das geschriebene und gelesene und für das Sein in Arkadien mitgesprochene „ego“ ist zunächst ohne Bezug auf eine bestimmt zu nennende Person aufzufassen, sondern muß mitzuvollziehen gedacht werden. Darum wendet sich die Inschrift im Bild immer an den sich für das jeweils zugedachhte Können einer der Bildfiguren einsetzenden Geist des Betrachters. Das je „ich“ bedeutsam sagen und denken Können wird von den lesenden Hirten wie den verstehenden Personen (die göttliche Muse eingeschlossen) als von ihnen und durch sie selbst nur verstehbar zu sagen mitgedacht. Wir sprechen darum den Figuren von der Inschrift her, die sie lesend verstehen, ein personales und vertretbares Bewußtsein zu. Die Schrift im Bild ist also von besonderer Signifikanz.

Das personale „ich-sagen“ Können erhält mit der bildhaft figuralen Repräsentanz seines Mitvollzug im Personalen einen Ort – eben in Arkadien – der mit dem auch diesen Spruch erhaltenden Steingedächtnis die Mitte einer friedlichen Gemeinschaftlichkeit, als um Kunst und Gedächtnis umwillen des Personseinkönnesn versammelt, bildet.

Das gilt auch für die nach Panofski traditionelle Auffassung, dass hier der Tod selbst spricht, der den aufzuhaltenden Vorübergehenden sage, das selbst er in Arkadien ist. Auch die allegorische Bindung an das Symbole des Totenkopfes enthebt unser Denken der Vorstellung nicht, dass der für den Tod selbst Sprechende ein Toter sein muss, der wiederum, um als sprechend und verstehbar gedacht werden zu können, durch Lebende muss vertreten sein können, wie es die Dichtung an Stelle der Toten etwa in paul Celans 'Psalm' unternimmt.

Der konstellativ sich aus dem lesend mitvollzogenen Gedenken eines allen gemeinen Personsein in Arkadien bildende Sammlung kann ohne die (an der figuralen Repräsentation teilhabende) Malkunst und ihr (vom Ursprung der Zeichnung her fleißig festhaltendes) Andenken des sichtbar und unterscheidbar Umrissenen nicht zustandekommen: so erst erhält sie ihre Rechtfertigung als geistige Kunst. Durch ihr bildhaft und reflexionsvermittelt erscheinende Werkgestalt kann der Betrachter das in Gegenwart verknüpfen, woraufhin die Malkunst das Gemälde von dessen vergangener Entstehungher konstruktiv angelegt und in seiner Materie zeitdurchgreifend verselbständigt, gleichsam verewigt (ars longa - Lang ist die Kunst.) und in die Wiedererkennbarkeit durch Wiederbegegnungen gebracht hat.

Die Verknüpfungen im Sehen und Deuten und Mitvollziehen werden vom mitkonstruierenden Geist des Betrachtenden herzustellen verlangt, weil ohne diesen keine der dargestellten Figuren „ich-haft“ sein kann, d.h. nicht für lebendig empfunden und als keine eines ich-haften Selbstbewußtseins fähige Personen gedeutet werden könnten. Dies sie als verständige Personen Wahrnehmen wird herausfordernd verstärkt durch die dargestellte Tätigkeit des Lesen und des Hörens und Verstehen des Vorgelesenwerdenden, das den Sinn des Spruchs auf der Grabsteinwand in eine öffentliche Bedeutung hebt.

4.

In Arkadien auch ich – heißt darum, dass auch je ich beteiligt bin an der mitzuvollziehenden Gegenwart des verknüpfenden Gedenken aus Werk und Deutung in jenem zugleich geitig mittätigen Betrachten, das zum durch das Bildwerk ermöglichten Gemeinschaft Stiftenden gehört.

Assoziieren können wir für das Lesen und überbrückende Verknüpfen des Weisungszentrums des Bildes das ursprüngliche Berühren in Michelanchelos Darstellung der Beseelung des erschaffenen Menschen. Die Personwerdung, auf die hin der Ort des (ichhaften) Selbtseins in Arkadien konstellativ angelegt ist, ist mit dem Ursprung der bereits (weisend und gewiesen, gestalterisch und empfänglich) tätigen Seele bedeutet – im und für den Geist des beseelten Seinkönnens als Personen. Mit dem Totengedenken in der Stellvertretung wird das zeitliche und endliche Leben als Leben von der ewig nur geltenden Idee unterschieden, wie es zur Person gehört, deren Sein und Können in Gemeinschaft der Geist des Kunstwerks zugeneigt ist.

Das Personseinkönnen aus dem vergegenwärtigend mitzuvollziehenden „ich zu sein“ und „ich zu sagen“ schließt als im Gedenken vertreten und damit nicht nur im Gedenkstein präsent den Toten (und damit alle Toten) ebenso ein, wie die zukünftig als diesem Werk Begegnenden vor ihm und in seinem ideellen Ort je zu stehen kommen werden. Wir hier sehend und bedenkend vertreten sie im Blick auf das im Bild uns gestalterisch thematisch Werdende.

Die Persönlichkeit des Menschen, geistig – das Seinkönnen als Person, in geistig verfasster Vertretbarkeit durch ich-bewußtseinsfähige, im Du ansprechbare Einzelnen, die auch in der geistigen, gemeinsinnigen Erkenntnis kein Selbstbewußtsein ohne Wahrnehmung haben können und damit angewiesen sind auf Wahrnehmungsrepräsentation durch das Bild – als nur in reflexiver Gestaltung wahrheitsfähig – und seine Idealbildungsverwerfungen und die reflexive Scheinerkenntnis in Kauf nehmen müssen.

5.

Das Bildwerk wird durch diese seine Konstellation in ein immer auch stellvertretendes Betrachten und Denken einbezogen, das seine Erkenntnis eröffnende Reflexivität seiner eigenen Struktur verdankt. Es wird durch seine konstellativ reflektierte, ein (allgemeines und Gemeinschaft stiftendes) Stellvertreten einbeziehende Struktur zu einem Zentrum, zum Ort der zeitdurchgreifend wirksam werdenden Identitätsstiftung einer – durch den Geist des Kunstwerks ermöglichten – geschichtlich personalen Achtungsgmeinschaft, die sich im treuen Betrachten des Werks und seiner Strukturen in solche Achtung einübt und aus der in jeder Begegnung wieder zu belebenden Gedächtnistreue die sich vollendende, die gelingende Vereinigung in Kooperation und Liebe antizipiert.

6.

Nicht nur der Lorbeer erinnert an die tragische Geschichte des unerfüllten Begehrens und die Not der Flucht vor ungeliebten Nachstellungen. Die arkadische Versöhnung von sinnlicher und himmlischer Liebe – mit der anwesenden Gottheit der Pictura in die musische Liebe zur Kunst transformiert (als öffentlich zu schützende Bestimmung ihren Werken gegenüber) – verdankt sich in ihrer Vergegenwärtigung einem scheinbaren Geglücktsein, nämlich des Werks selbst in seinem Erkenntnis eröffnenden Geist.

Wie zu Anfang gezeigt, ist die Gestaltung von zweifachem Schein durchwoben. Dieses scheinhafte ist an die Farben und ihre Wirkungen, an das Gemaltsein der Lichtführungen gebunden, das sinnlich immer die Einbildungskraft ansprechen muß, sich anderes und mehr vorzustellen, als es die Pigmente und Ölfarben auf Leinwand „materialiter“ sind.


III.


1. Liebe und Gedächtnis – im Bestimmenden für die Malkunst

Ein Festhalten als Bild aus dem nachgezeichneten Umriß des Schattens suchte aus dem noch eben sichtbaren Anwesen des Geliebten dem drohenden Verlust und dem Abwesendseinwerden entgegen ein Bleiben zu erhaschen, das als Motiv ein Gedächtnis in ein Werk einzeichnet, das sich auf das zukünftig Gewordenseinwerdende des Vergangenseins als bleibend gegenwärtig ausrichtet. Die Erzählung der Entstehung der Zeichenkunst schildert also einen Grund des künstlicherischen Antriebs, dessen Gestaltungkraft immer einen Gegenhalt zu einem zukünftigen Abwesenden in der Zeit, gegenüber dem als solches verlorenen sein Werdenden darstellt, dem nur als Gedächtnisbild ein auf die Erinnerungstätigkeit, sie stützend, angewiesene Gegenwart verleiht. Darum kommen auch in Bildern von Arkadien Ruinen von Gebäuden und menschlichen Bauten vor. In dieser Linie liegen auch die moderneren Bilder unserer Gegenwartsbauten von zukünftigen Ruinen (ich denke an das Bild der umgefallenen und zerbrochenen Freiheitsstatue im Film „Planet der Affen“ als die Raumfahrer entdecken, dass sie nur auf der zukünftigen Erde gelandet sind, oder an Hubert Roberts Gemälde des Louvre als zukünftige Ruine 1796).

Motive, die wir in den mit Arkadien verbundenen Geschichten wiederfinden, von Daphnis oder von Apollon und Daphne handeln von Liebe und Eros, von Treue und Beständigkeit - versus Untreue und sind für die geistige Einsicht in der Weisung der Seele mit Wahrheit und Gedächtnis durchzugestalten.

Als Strebenskräfte haben wir also sowohl die Liebe, die "fleißig die Augen heftet", als auch den Bezug zu Verlust, Abwesenheit oder Tod an diesem Wir-Ort des personalen Ich-Bewußtseins in Arkadien zu entdecken und wiederaufzufinden. Darin eingebunden ist das werkhafte Verfertigen von Gedächtnis als Repräsentation und Stellvertretung, – in Verweis und durch die Bildkunst unaufhebbarer Differenz zum Leben, zu Erfüllung, zum (Zusammen-) Sein.

2.

Mit dem Sarkophag, in dem bedeutende Persönlichkeiten beigesetzt werden, bleiben die beigesetzten Toten anwesend, an ein kunstvolles materielles Gedächtnissen gebunden, an ein Grabmahl, das ein je besonderes sein will, aber schon mit der Inschrift in das allgemeine Fürsein reicht. Der Gedenkstein ist zum Pilgerort geworden, der zugleich als Altar der Göttin und des Gedächtnisopfers dient (vgl. die Daphnis Erzählung bei Vergil, 5. Ekloge: sie brachten ihm Opfer dar).

Und mit der Kunst des Gedächtnisses wird das Rühmen, die Herausstellung der Bedeutung einer Person, zum Zweck der Darstellung und dem Erhalten in der Geschichte - Im Bild von Poussin ist aber das Gedenken auf ein namenloses "Ego" bezogen, der Stellvertretung fähig – wie oben unter II. näher erläutert.

Wiederkehrendes Motiv – Totengedenken und Lorbeer, der verachtete Eros, seine unterschätzte Macht (Liebesdienst): auch dies wirkt in den „Antriebskräften“ der Malkunst.

Der Hirte Daphnis: Ein Treuebruch gegenüber der Nymphe Nomia, der er sich vertraglich zur Treue verpflichtet hatte, hat seine Erblindung zur Folge. Er hatte sich leichtfertig gerühmt, Eros zu besiegen, doch die gekränkte Aphrodite weckt in ihm die Liebe zur Königstochter Xenea, die diese erwidert. Daphnis’ Sieg über den Eros hätte darin bestanden, seiner ihn verzehrenden Leidenschaft zu Xenea nicht nachzugeben und Nomia treu zu bleiben. Er kann sich zwar mit seiner Sanges- und Flötenkunst über die Blendung hinwegtrösten, stürzt jedoch bald von einem Felsen und wird selbst in einen Felsen verwandelt.

Apollon und Daphne.

In Arkadien – das streitlösend Gemeinschaftliche – in personaler Vertretung, Totengedächtnis und damit das memento mori des individuellen Menschenlebens in die kulturstiftende, Bildgedächtnis wahrende Geistesbildung einbeziehend.

Zu bedenken wäre noch: die mit Arkadien verbundene „schwach kultivierte“ darum idyllische Natur (in der aber die zerstörerischen Gewalten als beherrscht oder ausgegrenzt gelten) und das Verhältnis zu ihr in der Bildung des geistigen Orts, wenn wir uns im Bild Arkadien gegenüber setzen.


Juni 2022

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