Jan Vermeer - Das Glas Wein 1661 Berlin


Ein elegant gekleideter junger Mann sieht einer Frau zu, wie sie ihr Glas austrinkt. Die Hand an den Krug gelegt, scheint er darauf zu warten, das Glas erneut zu füllen. Das herkömmliche derbe Motiv »Wein, Weib und Gesang« hat Vermeer, offensichtlich durch ein Gemälde ter Borchs beeinflusst, in ein distinguiertes Tête-à-Tête verwandelt. Während der Kavalier in dem Gemälde ter Borchs seiner Dame den Arm um die Schulter legt, liefert Vermeer keinen expliziten Hinweis auf die Natur der Beziehung seines Paars. Ob der Alkoholgenuss in Ausschweifung enden wird, bleibt ungewiss. Vermeer deutet nur an. Die auf dem Stuhl liegende Chitarrone, ein Instrument, das auf seinen Bildern häufiger auftaucht, symbolisiert sowohl Harmonie als auch Frivolität. Die Wappenscheibe im Fenster zeigt außerdem eine Frau, die in der Hand ein Zaumzeug hält, ein Attribut der Temperantia (Mäßigung). Meisterhaft gibt Vermeer das durch die Bleiglasfenster einfallende Licht wieder, wie es mit den Objekten und Personen in Wechselwirkung tritt. (vgl. auch das Bild von Vermeer in Braunschweig „Das Mädchen mit dem Weinglas“)


Gabe und Annahme


Das in einem Kreis konstruktiv gefasste Verhältnis der beiden Figuren stellt die Einheit von Gabe – des Einschenkens – und der Annahme, des Trinkens als ein folgsames Leeren des Glases bis zur süßen Neige, dar.

Es ist mit dem Gestus des Griffs zur Flasche auf ein Nachschenken und Fortsetzen hin ausgerichtet, das für sich genommen keine Vollendung, keine Erfüllung gewährt: im Ziel des Betrunkenmachens zerbricht das Annahmevermögen (im Betrunkenwerden geht die Aufnahmefähigkeit verloren).

Die durch die Konstellation der Gesten dargestellte Einheit der Handlungen im Geben und Annehmen, im anbietenden Schenken und Befolgen bildet sich keine Vollkommenheit, keine Einheit aus, die auf die Dauer einer Vereininigung angelegt wäre. Das gestisch bedeutete Verhältnis der Figuren ist transitorisch auf eine Liebesvereinigung bezogen, die – rauschvermittelt und zweckgesteuert – ebenfalls nur vorübergehend sein kann und keine Treue der Verbindung stiftet. Dem wirkt die festhaltende Darstellung in Umringung entgegen und teilt diese Entgegenwirkung dem Empfinden des Betrachtenden mit. Die Konstellation der gesehenen Gesten ihrer Handlungen ist geeignet, einen Treuebruch zu bezeichnen, wenn das Paar nicht nur unverheiratet ist, sondern der Mann mit großem Hut und Umhang in einen Hausstand getreten ist, der der Hausfrau als Ehefrau eines anderen zugehört. Diese handlungsgegenständlich szenische Bedeutung ist aber eingebunden in einen das Figurenverhältnis umgreifenden Verweisungzusammenhang ihrer Darstellung.  

In der Szenerie dieses Interieurs, eingebunden in den Kreis ihres Zusammenschlusses und mit der Flasche fast als Mittelpunkt, verkehren sich die Assoziationen des Schenkens – als Ausschenken von Glück, sich an das Füllhorn erinnernd – zu Handlungen der Verführung und des sich bereitwillig verführen Lassens (bzw. sich zu dieser Bereitschaft führen zu lassen) zu einem ins Ungebundene gehenden Gefährdung durch Unmäßigkeit. Das wird schon durch die Art des Leerens des Glases in einem Zug bis zur Neige und das Verdecken des Gesichts durch das Glas herausgestellt.

Die malerische Figuration bindet aber die beiden in gestisch bedeutsamen Haltungen dargestellten Personen / Figuren nicht nur durch die Geometrie des Kreises in der konfrontierenden Ansicht aneinander (der durch die ausgebreiteten Gewänder und den Tischteppich flächlich gefüllt wird, sondern auch durch die Kompletmentärfarben ihrer Gewänder und die Wiederholungen im Faltenwurf.

Ihr Bild in dieser gemalten Konstellation ist selbst eine Gabe geworden, das der Betrachter annimmt und in seinem Annehmen die Deutung im Erkennen und Begreifen der Zusammenhänge vollzieht, die wir angedeutet haben. Durch ihn, den annehmenden Betrachter, der nicht berauscht wird, sondern nüchtern bleibt in aller Anregung durch Farben und Formkonstellationen, dessen Einbildungskraft belebt und dessen Denken begeistert wird durch die Attraktivität, die Highlights, und dem Schönen des kunstvoll Gemalten wie der Schönheit einer sinnlichen Liebesempfindung, die durch das dargestellte Betrunkenwerden als Sinnesvergnügen ermöglicht wird, aber nicht zur Schönheit der Verbindung von Liebenden passt und im Empfindungsdenken des annehmenden Betrachtens quer steht zur Würde des Schönen – in der sinnlichen Urteilskraft dem Kunstwerk und seinem sinnlich sich erschließenden Gehalte gegenüber, wird das gewahrt, was in der Darstellung der das Maß zu verlieren drohenden Liebesneigung das Versprechen der Einheit und ihrer Vereinigung geworden ist.

Nie im Dargestellten einholbar ist das geistig lebendige Verhältnis in der Gegenwart der Annahnme des Kunstwerks durch den Betrachter: eine zwar zeitlich nur zu geschehen mögliche Erfüllung der mit dem „Gesehenwerdenwollen“ des Bildes verlangten Annahme seiner Gabe, deren Erkenntnisresultat und Erfahrungsbildung aber ein Bewahren verträgt, eine Gedächtnistreue ermöglicht und auf Dauer, Fortsetzung und Wiederholung gestellt sein kann, durch sich wie durch andere ähnlich in der Begegnung mit dem Werk zu empfinden antizipiert.

Das Werk als Gabe, das selbst das Verhältnis von Gabe und Annahme darstellt und durch die malerische Intention des Darstellens reflektiert – die Gabe des mit Elementen des Verhüllens sichtbar machenden Malens – unterscheidet sich in der Bezugnahme auf den Gestus des Gebens (in der Sinneswirkung des Weins oder der Musik von der Sinneswirkung des Sehens …macht auf die Andersartigkeit deren Verhältnisse zu Wissen und Handeln, deren Anspruch und Versprechen aufmerksam – siehe auch Kauf und kaufmännisches Handeln … käufliche Liebe) und wird in eine Erkenntnis des sensus communis sinnlich beurteilend angenonmmen und erfasst, darin der Betrachter die Stelle eines möglichen anderen einnimmt und das Urteil des Schönen in seinem konstruktiv durchdrungenen Empfinden als allgemein möglich antizipiert, dem Werk so einen Ort gebend in geistig geschichtlicher Gemeinschaft, für deren Einheit in der Ordnung die Werke selbst stiftende Funktionen übernehmen und darin sein ihm Begegnenkönnen öffentlich gewahrt wird. (Aus dem Privatkabinett hinaus in den Kirchenraum, in den Schauraum, den Empfangsraum, die Galerie, das Museum – mit dem entsprechenden Schutz und der Konservierung – Gegenzug zum Kunstmarkt oder zum Kunstraub für die geheimen Privatsammlungen). Öffentlichkeit der Kunst.


Musik im Gemälde


"Ein Gemälde ist eine Welt ohne Veränderung und ohne Ton. Vermeers Gemälde jedoch sind voll von Musikinstrumenten und Menschen, die Musik machen. In fast einem Drittel seiner Bilder, ist Musik in der einen oder anderen Weise vorhanden. Die Tatsache, dass Vermeer so viele musikalische Themen dargestellt hat, ist an sich nicht überraschend, „mindestens zehn Prozent aller siebzehnten Jahrhundert Gemälde, werden in ihrer Gestaltung durch musikalische Themen mitgeprägt. In Genrestücken, welchen Vermeers Arbeit im Allgemeinen zugeordnet werden, ist der Prozentsatz sogar noch höher. Zum Beispiel handeln etwa 20 Prozent der Frans van Mieris' Werke, 25 Prozent von Pieter de Hooch und fast die Hälfte von Jacob Ochtervelt in irgendeiner Weise von Musik.“


Weiße Haube - schwarzer Hut.

Das Wort „Haube“ leitet sich von der althochdeutschen Bezeichnung huba und dem mittelhochdeutschen Wort hube ab. Im Allgemeinen versteht man darunter eine Kopfbedeckung, die meist von Frauen in zahlreichen Formen zur vollständigen Verdeckung des Haares verwendet wurde. Der „Hut“ hingegen verdeckt das Haar nicht vollständig, besitzt einen ausgeprägten Kopfteil und ist mehr oder weniger steif gearbeitet. Das Wort leitet sich von der mittelhochdeutschen Bezeichnung für Obhut / Hut huot(e) ab.

Die Haube der verheirateten Frauen war fester Bestandteil ihrer Garderobe und signalisierte geordnete Zustände, Anständigkeit und Würde.


Deutet die Haube der Frau darauf, dass sie „unter der Haube ist“? Der Mann wäre sicher nicht ihr Ehemann. Die familiäre Stellung der Frau ist aber nicht sicher. Sie ist herausgehoben in diesem ihrem Raum. Das Cistre-Spiel wäre eher einer jungen Frau zuzuordnen, die noch unverheiratet ist. Die Haube gehört aber zum sehr edlen Staat, in dem sich die Frau zeigt, „und signalisiert geordnete Zustände, Anständigkeit und Würde.“

Das Spiel hat sie aber bereitet, sich einem Einfluß dessen zu öffnen, der da hereingekommen ist.

Der Mann mit Stiefeln und auffallend großem, breitem schwarzem Biberfilzhut, der den Import der Felle aus Kanada repräsentiert und eine Statussymbol der kolonialen Händlermacht ist.

Es ist einer, der von außen kommt. Er wohnt hier nicht. Er ist nicht unerwünscht, aber er ist derjenige, der in diese Stube hereintritt, hereingetreten ist, die auch mit seiner Anwesenheit Wohnung und Ort der Frau bleibt. Sie nunmehr steht unter Einfluß, wiederum nicht als unerwünscht abgewehrt, aber mit einer Gefährdung einhergehend. Gefährdet ist sie, sie trinkt, er nicht. Er schaut nur, bereit, nachzuschenken (als Mundschenk – sie also wie eine Königin – umso schmerzlicher die Gefahr zu empfinden, betrunken zu werden und sich gehen zu lassen – wie in den derben Bauernstücken der Zeit).

Dass sie ein Glas Wein bis zur Neige trinkt, allein, und der Mann an ihrer Seite nur darauf wartet, nachzuschenken, zeigt eine Einseitigkeit und etwas Maßloses an in der Bereitschaft, sich dem Rausch hinzugeben und die Fassung zu verlieren. Der Weingenuß ist nur der Hinweg, dessen eröffnende Reaktion der ganz auf sie gerichtete Beobachter gespannt erwartet.

Dass dies ein Liebesrausch sein möge, darauf deutet die Cister hin, die sie weggelegt hat, wohl bei Eintritt des Freundes, auf den hin sie sich im Cisterspiel gestimmt hat, sehnsüchtiges Verlangen erweckend, das das Spiel, es verstärkend, zum Ausdruck brachte, nun aber verklungen ist und nur in der Trinkbereitschaft noch als Folge anwesend.

Von der Liebe unterscheidet sich die musikalisch vorgestimmt Lust durch die Abwesenheit von Fürsorge, die doch Selbstbeherrschung und Besonnenheit verlangte. Das Saumzeug im Fensterbild mahnt zur Mäßigkeit, sich zu zügeln, das nur durch das Außenlicht als Mahnbild hereinscheint, aber nur von der Frau gesehen werden kann, deren Gesicht direkt darauf ausgerichtet ist; sie hat jedoch bis über die Augen das Weinglas an sich herangedrückt, dessen Glaswand ihr keinen klaren Blick und kein Erkennen des Angemessenen (Schicklichen) mehr erlaubt. (Ein Weinglas als Augenglas, das alles in ein schiefes Licht rückte).

Das Fenster ist soweit leicht zur Seite hin geöffent, dass sein Winkel es noch ermöglicht, vom Bildbetrachter in dem gesehen zu werden,was es als durchscheinendes Bild und Wappen enthält, das ja – wie in den Adelsfamilien – eine Bestimmung für das Mitglied wiedergibt (Frau in blauem Gewand mit Bändern – vgl. die unten zitierte Beschreibung aus dem Berliner Museum).

Zugleich liegt auch noch die Cister und ihre kurz zuvor noch bespielten Seiten direkt vor und im Blickfeld der vor dem Tisch sitzenden Fau.

Der blauviolette Vorhang hinter dem Fenster, dessen leicht bläuliche Butzenscheiben, das Kissen unter der Cister, der hintere Teil des Saums  und der blauliche Schein am Ende der weißen Haube bilden zusammen ein Oval innerhalb des Innenraums, der vom Grün des Umhangs des Mannes unterbrochen wird. Die Unterbrechung des Spiels und seiner zum geschlossenen Innenraum gehörenden Stimmung erhält eine Repräsenz in der Konstellation dieser Figuration der Bildelemente.

Dieses Oval der blauen Farbelemente tritt neben und in Spannung zum Kreis der figuralen Komposition (siehe unten).

Soweit der Betrachter sich mit dem Mann von außen identifizieren muß, da er den Betrachter im Eintgetretensein vertritt, das Trinken der – verheirateten? - Frau (mit Haube) beobachtend und fördernd, kann der Bildbetrachter diese Verführung und Stützung zur Hemmungslosigkeit nicht affirmieren, nicht als gut und schön mitempfinden. Unser Blick verweilt nicht im Blick auf das Glas und das davon fast verdeckte Gesicht des Mädchens, sondern wandert durch die Bildfläche und den Innenraum. Die malerische Konstuktivität und Kunst leistet nun aus Schönheit der Verführung zur Maßloßigkeit und der Neugier auf ihre Folgen Widerstand im Bild selbst und erhält von der auf das Beständige und Bleibende gerichteten schönen Kunst her seinen Beistand. Es gibt uns in der Geschlossenheit seiner Verknüpfungen und seiner Konstruktion ein uns beeindruckendes Maß der Vollendung (während wir für den Vorgang des sich Betrinkens stehen bleiben müssen in der leeren Bedeutung, für die keine Folge eintritt, die wir erleben könnten).

Zentrum bildet ein leeres Glas.

Das Platznehmen am Tisch ist dem Betrachter verwehrt: dort lagert die Cister. Direkt über und hinter dem Tisch prangt groß in schwerem vergoldeten Rahmen ein düsteres Gemälde einer dunklen Waldlandschaft.

The Glass of Wine

(Het glas wijn) c. 1658–1661 Oil on canvas 65 x 77 cm. (25 5/8 x 30 1/4 in.) Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Berlin

„Auf der linken Seite ist ein leicht geöffnetes Fenster mit farbigem Wappen dargestellt, auf der eine Frauengestalt mit verschlungenen Bändern in der Hand zu erkennen ist. Eine entsprechende Figur findet sich unter den Emblemen, die G. Rollenhagen 1617 ediert hat. Die Bänder erweisen sich dort als Zaumzeug, neben dem Winkelmaß ein Attribut der »Temperantia « (Mäßigkeit). Der begleitende Text des Emblems lautet: »Mens Servare Modum, rebus sufflata secundis, / Nescit, et affectus fraena tenere sui.« (Das Herz weiß das Maß, wenn es vom Glückshauch getroffen wird, nicht zu wahren und den Gefühlen Zügel anzulegen.) Dieser Hinweis bezieht sich nicht nur auf das Weintrinken, sondern insgesamt auf die Beziehung der dargestellten Akteure und der absehbaren, fehlenden Zurückhaltung beider. Es ist eine Warnung das rechte „Maß zu wahren“. Noch in einem zweiten Bild verwendete Vermeer die Darstellung dieses Emblems in demselben Kontext. In dem Gemälde „Mädchen mit Weinglas“ (Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig) sind die anzüglichen Avancen des Herren jedoch weitaus expliziter hervorgehoben.

Die Nahsicht der Dinge ist im Berliner Werk erstmals aufgegeben. Vermeer lässt den Betrachter zurücktreten, indem er diesen durch den leeren Stuhl am Tisch abgrenzt. Der gewonnene Abstand weitet den Blickwinkel. Das Interieur wird nicht länger als Teil des Figurenausschnitts wahrgenommen, vielmehr sind die Figuren nun Teil des Interieurausschnitts. Neuerungen dieser Art weisen auf den Einfluss der ersten Meisterwerke Pieter de Hoochs, des um drei Jahre älteren Delfter Malerkollegen Vermeers. De Hoochs Interieurdarstellungen der Zeit um 1658 sind in erster Linie von der Architektur des Innenraums her erdacht und gestaltet. Was allerdings Vermeer aus einem Interieur de Hoochschen Typs zu machen imstande war, verdeutlicht gerade das Berliner Bild, das durch seinen streng kalkulierten Aufbau beeindruckt, auch durch den Illusionismus der Malweise, der selbst in der Differenzierung von Oberflächenwerten erhalten bleibt, ohne sich in dieser rein sachbezogenen Bestimmung bereits zu erschöpfen. Im überall gegenwärtigen Licht erlangen die Dinge den Anschein einer höheren Qualität.“ | Katja Kleinert / Jan Kelch

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