Frau mit Waage - Women in balance

Frau mit Waage (Women with a balance) (Washington)


Das Bild, Frau mit Waage (Washington), wurde oft als Perlenwägerin begriffen und betitelt. Bei detailllierter Betrachtung stellen aber die Lichtpunkte und Reflexe auf den Waagschalen gar keine Perlen dar, sondern sind als Lichtreflexe des Metalls gemalt, anders als die Perlen daneben, die aber den Anschein erwecken können, dass dort etwas glänzend Reflektierendes wie Perlen gewogen werden könnten. Dass dieser falsche Eindruck entstehen kann, gehört aber dem Bild in seiner Art der Malerei zu und ist einzubeziehen in die Deutung als ein Erkenntnisprozess, für den ein sich Berichtigen im Erkennen von Schein im Anschein wesentlich wird.

Die Frau hält in Balance das ihr eigene Instrument des Wägens, steht darin in einem Bezug auf ihre Perlen als Schmuck, als ihren Schmuck, nicht als Händlerin und bringt als Haltung das Gleichgewicht zum Ausdruck, das sie, da sie Balance zu halten vermag, hergestellt hat. (Es ist keien realistische Alltagsezene, die uns hier begegnet.) Der Ausdruck von Ruhe und Standfestigkeit, der ihrer Haltung – auch in der Fassung der fließenden Linien – zukommt, wird durch den Anhalt der Hand am Tisch gegen jedes Zittern der frei haltenden anderen Hand gestützt, [sie selbst ist nicht gebrechlich, muß sich nicht stützen]. Ihre Haltung ist in das Dunkel des Raums nahe an der Fensterwand eingebunden, das durch das Aufleuchten des hellen Fellbesatzes ihres blauen Umhangs im Weiß konstrastiert wird und verbindet sich mit der Malkunst des Gleichgewichts von Hell und Dunkel, sichtbar Werdendem und dem unsichtbar zu Erschließenden (zu Deutenden).

Ein Gegengewicht zum Gleichgewicht als Ausdruck der Haltung bildet das Bild des jüngsten Gerichts an der Wand dahinter mit seinen dramatisch entgegensetzenden Entscheidungshandlungen (für Lohn und Strafe). Ist dort verdeckt hinter dem Kopf der Frau ein Wägen der Seelen (durch den Erzengel Michael) gemalt und verdeckt, nur für den den Bildtypus kennenden Betrachter erdenkbar, dann stellt das Ruhighalten der leeren Waage einen beruhigten Gegenpol zur furchteinflössenden Entscheidung im Bild eines jüngsten Gerichts dar und stellt damit in Frage, ob es für die Seele und die stoische Tradition der Seelenruhe förderlich, erbaulich und ob es überhaupt angemessen ist für ein im Glauben gegründetes Verhältnis zu göttlich weltbezogener Urteils- und Entscheidungskraft, die Gerichtsvorstellung vor Augen zu führen, und nicht die Rettung vor dem Gericht, sondern das Abwägen zwischen guten und bösen Taten als der jeweiligen Seele in ihrer Körperlichkeit zuzurechnen.

Mitzudenken wird so ein Wägen im Gedächtnis der Frau, repräsent im Wissen des Betrachters, das als das in diesem Aspekt verdeckte Gericht zugleich nicht präsent ist, nicht zur Geltung gebracht, also als überwunden oder als zu überwinden gezeigt wird. Das Bild trägt eine Erlösungsbotschaft, die nicht über das unvermeidliche dem Gericht Verfallen vermittelt wird, sondern eher mit einem Zurückdrängen der Mahn- und Angstpredigten (typisch für die Calvinstische Sonntagspredigt) einhergeht und dessen sich Binden des Gemüts an die Abwägungen von Gütern eine dem widerständige Haltungsbestimmung (zur Erlösung vom Gericht und seiner Wägung) entgegensetzt, die vernehmbar wird. Das Bild deutet ein Vermeiden Können an, dem Gericht zu verfallen, aus einem auch angesichts der Verlockungen der glänzenden Geschmeide (und derauf bezogenen Eitelkeit) bewahrten inneren Gleichgewichts, das auch kleine Hilfestellungen nicht ablehnt. Die Ruhe ist im Bild präsent, besonnen, selbstbeherrscht wohl, aber nicht aus einer sinnesbeherrschenden, Sinnlichkeit verachtenden stoischen Tugendhaftigkeit geschöpft.

Die Vermögen der Urteilskraft und der Herstellung von Gleichgewicht sind im Bild der Frau mit der Waage thematisch und ihre Ideen konstruktiv leitend.


Das Ineinandergreifen von Würde und Vermögen – in der Darstellung

wahrt deren Identität und Unterscheidung. Würde ist Maß der Vermögen in ihrer Ausübung und Werkbestimmung – im Bestimmungsgrund ihrer Idee – , und Vermögen ist Bedingung, würdig zu sein, denn was man nicht vermag, dessen kann man nicht gewürdigt werden.

Schöpferische Gabe des Ursprungs: Vermögen, selbst zu sein, in Annahme zur Wahrung der maßgrundgebenden Idee – für die Entsprechung (nicht als Ding, das diese Fähigkeit einfach hat, denn es sind die Vermögen von Vernunft und Urteilskraft mit der Sinnlichkeit, die eines Maßes, die der Übung und der Berichtigung bedürfen und nicht in Perfektion nur „gemacht“ sein können, vor und ohne dem etwas selbst Tun und tun Können (die Selbstätigkeit gehört zu dem zu Würdigenden von Vermögen).

Als der Annahme des Maßes fähig, sind Vermögen der Unangemessenheit ihrer Ausübung fähig, dem der Begriff ihrer selbst je entgegensteht und auf die Idee als Ma0 in Vollkommenheit verweist. Die Widerfahrnis des Unangemessenen, des Verfehlens, ist in jeder Darstellung, die das Maß erneuernd gibt, vorausgesetzt und gehört zum Erinnerungsgehalt der Darstellung von Vermögen in Ausübung – denn ohne Werk, je in Besonderheit, ist kein Vermögen seiner Bestimmung nach darstellbar, ist keiner Idee eines Vermögens zu gedenken.



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